Liebe Eltern,
liebe christliche, islamische und jüdische SeelsorgerInnen,
liebe PhilosophInnen und TheologInnen,
liebe Religions-, Ethik- und GeschichtslehrerInnen,
liebe Lehrplankommisionen – und vor allem –
liebe SchulpolitikerInnen!
Vor kurzem ist mir ein alter Leserbrief wieder in die Hände gefallen:
„Alle Menschen sind gleich in ihrem Nichtwissen, alle, die Christen, Buddhisten, Atheisten und Muslime in Europa und auf der ganzen Welt, alle, unweigerlich alle. In diese Wissenslücke tritt bei manchen der Glaube. Der Glaube ist eine feste Überzeugung. Seine Psychologie ist komplex. Eines scheint aber klar: Fester Glaube tut sich schwer mit der Anerkennung des gemeinsamen Nichtwissens. Tausend Religionskriege zeugen davon. Wenn jemand seine persönliche Glaubensüberzeugung über das gemeinsame Nichtwissen stellt, dann verletzt er die Gleichheit der Menschen im Nichtwissen. Es ist eine moralische Aufgabe, vor solchem Glauben zu schützen. Toleranz heißt nicht, den Unglauben der anderen zu ertragen, sondern die Relativität des eigenen Glaubens.“
Mein Brief an junge Menschen ist sozusagen die Langversion dieses Leserbriefs vor 5 Jahren.
Der menschliche Verstand ist zu Großem fähig. Der Beweis, dass sichere Erkenntnis nicht möglich ist, ist da eine vergleichsweise leichte „Rechenaufgabe“. Trotzdem hat es in der Menschheitsgeschichte bis zur französischen Revolution gedauert, bis die Einsicht über die Grenzen des Wissens gegen den Widerstand der Mächtigen zur Grundlage unseres Zusammenlebens geworden ist.
Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit – sind die logischen Konsequenzen des Nichtwissens.
Natürlich ist das eine grobe Vereinfachung. Trotzdem gilt: Das Zusammenwirken von Rationalismus und Empirismus in der Aufklärung wurde zur philosophischen Basis unseren offenen Gesellschaft.
Zweifel tut weh. Die Einsicht in die Grenzen des Wissens tut weh. Unsere menschliche Natur wehrt sich dagegen. Fundamentalismus, Faschismus, Fanatismus, Nationalismus, Islamismus, Trumpismus – und wie all die gegenwärtigen Irrationalismen auch immer heißen – nutzen das aus und unterminieren unser Gemeinwesen mit ihren verführerischen Botschaften.
Vor dem Hintergrund dieser gefährlichen Entwicklungen ist es für mich höchst erstaunlich, warum das Wissen um die Grenzen menschlicher Erkenntnis, warum Erkenntnistheorie an unseren Schulen erst in der Oberstufe des Gymnasiums thematisiert wird.
Wer zweifelt, sucht die Wahrheit. Wer die Wahrheit sucht, wird die Unwahrheit finden. Wer die Unwahrheit findet, geht Lügnern nicht auf den Leim. Was bietet besseren Schutz gegen den Irrationalismus als die Erkenntnis des Nichtwissens? Was schützt unsere Verfassung besser als der Zweifel?
Liebe Schulpolitiker, es muss ja nicht gleich ein neues Schulfach „Staatsbürgerkunde“ sein. Aber warum herrscht in den Lehrplänen unserer Schulen so gähnende Leere, wenn es um die wichtigste philosophische Grundlage unserer Verfassung geht? Und warum wird unsere Jugend mit ihren Zweifeln und den Grundfragen ihrer Existenz von unserem Bildungswesen so allein gelassen?
Mein kleines Buch kann diese Lücke nicht schließen, aber es soll auch eine Anregung sein für einen aus meiner Sicht dringend notwendigen Diskurs über die Erweiterung der Lehrpläne unserer Schulen.
Auf der Startseite meines Internetauftritts und auf der Rückseite des Buchs steht mein Anliegen in Kurzform:
„Bewusste Skepsis gegenüber den eigenen Überzeugungen ist ein unverzichtbarer Grundpfeiler friedlichen menschlichen Zusammenlebens.“
Ich würde mich freuen, wenn Sie dieses Anliegen zu dem Ihren machen würden.
Ihr Bernhard Eichelbrönner